Kolumn

Völkerwanderung

Seit Wochen werden uns Tag für Tag Berichte und Bilder von den Flüchtlingsströmen in Europa frei Haus geliefert. Das Bild vom ertrunkenen kleinen Buben im Meer oder von der Frau mit dem Baby auf den Bahngleisen kennt beinahe jeder Mitteleuropäer. Dies berührt unheimlich und löst für eine kurze Zeit tiefe Betroffenheit aus. Je länger wir diese Bilder tagtäglich sehen, desto abgestumpfter und gleichgültiger werden wir. Bis zu dem Zeitpunkt, wo wir wieder direkt und persönlich mit Flüchtlingen, Asylwerbern oder Asylanten in Kontakt kommen.

Wenn die Stadt Graz in einer beachtenswerten Aktion beinahe über Nacht 1.500 Schlafstellen einrichtet, so ist dies großartig. Wenn man aber sieht, dass am gleichen Tag 22.000 Asylsuchende über Ungarn in die Stadt gekommen sind, so begreift man langsam die Dimensionen. Deutschland wird am Ende dieser Völkerwanderung wahrscheinlich eine Million mehr Einwohner haben, Österreich wahrscheinlich Hunderttausend.

Wie gehen wir persönlich damit um? Was können wir mit unseren Möglichkeiten tun, um den kleinen Tropfen im großen Fass mit ein zu bringen?

Bewundernswert ist für mich die große Welle der Hilfsbereitschaft vom Großteil der Bevölkerung. Spontan entwickeln sich Sammeldienste, die von Supermärkten Gebäck und Obst, das ansonsten zur Entsorgung gekommen wäre, einsammeln und geordnet der Notverpflegung zuführen. Es wird versucht, mit einfachen Mitteln den Flüchtlingsstrom mit dem Notwendigsten zu versorgen. Es funktioniert. Im Gegensatz dazu bringen nächtelange Diskussionsforen außer Schuldzuweisungen keine aktuellen Erleichterungen. Die politischen Entscheidungsträger sind bei einem derartigen Ansturm heillos überfordert. Sogar die Grundwerte der Europäischen Union sind auf die Probe gestellt.

Wir haben aber bereits jetzt Asylwerber und Asylanten im Lande, und dies seit längerer Zeit. Wir haben vor einiger Zeit versucht, diese Menschen als Erntehelfer bei der Obsternte ein zu setzten. Nach einem Spießrutenlauf durch behördliche Genehmigungsverfahren arbeiten jetzt drei Syrer bei uns im Obstgarten – mit allen Genehmigungen, die notwendig sind. Um eine Erfahrung bin ich seither auch reicher: Wenn ein Sachbearbeiter generell eine Ausländerfeindlichkeit in sich trägt, dann wird er nicht an alle Möglichkeiten „denken“, um eine Beschäftigung eines Asylwerbers zu ermöglichen. Wenn man aber an den richtigen Sachbearbeiter kommt, dann ist dies eine Arbeit von fünfzehn Minuten und man hat alle „Sachen“ beisammen.

Prem 38/2015