BÖLW: Gentechnik-Deregulierungspläne ohne wissenschaftliche Grundlage
In Bezug auf die Debatte über die künftige Regulierung neuer Gentechniken (NGT) während der Sitzung der Agrarministerinnen und -Minister der EU-Staaten erklärt Tina Andres, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW): „Die aktuellen Stellungnahmen der obersten Regulierungsbehörde in Frankreich und des deutschen Bundesamtes für Naturschutz belegen, dass entscheidende Grundannahmen der geplanten Verordnung zu NGT willkürlich gewählt wurden und keiner wissenschaftlichen Logik folgen beziehungsweise standhalten. Jedes Schulkind lernt im Biologie-Unterricht, dass schon der Austausch nur eines einzigen DNA-Bausteins die Erbkrankheit Sichelzellen-Anämie verursacht. Es gibt keine wissenschaftliche Logik, nach der sich das Risiko einer gentechnischen Manipulation von einer bestimmten Größenordnung oder der Zahl der Veränderungen ableiten lässt. Die Definition der Kriterien für Gentechnik-Pflanzen der Kategorie 1, die nach dem Willen der EU-Kommission und der konservativ-liberalen Mehrheit im Europaparlament künftig nicht (mehr) auf Risiken für Mensch und Umwelt überprüft werden sollen, erfolgte also willkürlich und nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. Auch deutsche Wissenschaftsorganisationen wie die Leopoldina oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sollten ihre bisherigen Stellungnahmen dringend überdenken, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, unwissenschaftlich und rein interessengetrieben zu argumentieren.
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und seine Kolleginnen und Kollegen im Rat müssen bei ihren Beratungen über das Gentechnik-Thema jetzt Konsequenzen aus den neuen wissenschaftlichen Analysen ziehen und dafür sorgen, dass sich der Rat der massiven Absenkung von Umwelt- und Verbraucherschutzstandards in der EU entgegenstellt, die mit einer Verordnung nach den Vorschlägen von Kommission und Parlament verbunden wäre.
Es bleibt dabei: für die Bewältigung der großen Herausforderungen im Agrar- und Ernährungsbereich brauchen wir nachhaltige und praxistaugliche Systemlösungen wie Bio und keine teuren, riskanten Gentechnik-Experimente mit unserer Umwelt!“
Hintergrund
Kürzlich wurde bekannt, dass die zuständige Behörde für Lebensmittelsicherheit in Frankreich (ANSES) bereits im Januar eine umfassende wissenschaftliche Stellungnahme zum Vorschlag der EU-Kommission für eine neue Regulierung von NGT und insbesondere zur vorgeschlagenen Abschaffung einer Risikoprüfung für NGT-Pflanzen der sogenannten Kategorie 1 abgegeben hatte. Diese Stellungnahme kommt zu dem Schluss, dass Pflanzen der “Kategorie 1” als „gleichwertig“ zu konventionell gezüchteten Pflanzen anzusehen wären. Nach übereinstimmenden Analysen würden etwa 90 Prozent aller künftigen NGT-Pflanzen in diese “Kategorie 1” eingestuft werden.
Die Einstufung in “Kategorie 1” erfolgt laut EU-Kommission und Europaparlament, wenn das Genom der Zielpflanze mit NGT-Methoden wie CRISPR-Cas an nicht mehr als 20 Stellen verändert wurde und nur bestimmte Formen der Veränderung vorgenommen wurden (beispielsweise „Deletionen“, also das Entfernen von Genen oder Gen-Abschnitten).
ANSES und auch das deutsche Bundesamt für Naturschutz (BfN) haben nachgewiesen, dass diese Festlegungen keine angemessene Bewertung des Risikos der vorgenommen gentechnischen Veränderung/en ermöglichen, da zahlreiche Beispiele für sehr riskante Folgen von auch sehr kleinen Gen-Veränderungen bekannt sind. ANSES und BfN betonen daher, dass auch zukünftig jedes einzelne NGT-Konstrukt auf Risiken für Mensch und Umwelt geprüft werden müsse, um schwerwiegende Folgen für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit zu vermeiden, die nach einer Freisetzung der entsprechenden Pflanzen in die Umwelt nicht mehr korrigierbar wären.
Besonders brisant ist, dass die französische Regierung, die sich in den letzten Monaten für eine NGT-Deregulierung ausgesprochen hatte, das ANSES-Gutachten bis nach der Abstimmung im Europaparlament unter Verschlussgehalten hat, so dass nicht allen Europaabgeordneten bekannt war, auf welch wissenschaftlich fragwürdiger Grundlage sie ihre Entscheidungen getroffen haben.
Einen ausführlichen Bericht über das ANSES-Gutachten hat der Informationsdienst Gentechnik zusammengestellt: keine-gentechnik.de
Quelle: BÖLW
Veröffentlichungsdatum: 27.03.2024