VSSE-Fachbeitrag zum neuen Urteil zur Beschäftigung von Saisonarbeitskräften: Gute Argumente für die Sozialversicherungsprüfung
Sozialversicherungsprüfungen durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) stellen für Arbeitgeber von Saisonarbeitskräften oft eine große Herausforderung dar. Alle vier Jahre könnten Nachzahlungen von etwa 40 % der Lohnsumme sowie ein Säumniszuschlag von 1 % pro Monat fällig werden, berichtet das Netzwerk der Spargel- und Beerenverbände e.V. in einem Fachbeitrag.
„Die Sozialgerichte argumentieren bei Sozialversicherungsprüfungen immer häufiger zu Gunsten der Arbeitgeber und zu Lasten der Deutschen Rentenversicherung.“ (Bildquelle: Unsplash)
So kommen zum Beispiel bei zehn Saisonarbeitskräften leicht Forderungen von rund 130.000 € zusammen. Dies stellt für die Betriebe oft eine große wirtschaftliche Herausforderung dar.
Alle Arbeitskräfte von Anfang an sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen, ist keine Option. Viele Arbeitnehmer fordern die Anerkennung ihres Status als Hausmann oder Hausfrau und lehnen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ab. Sie wechseln lieber zu dem Arbeitgeber, der ihren Angaben vertraut, um 400 – 500 € mehr Bruttolohn im Monat zu erhalten, wenn die Sozialversicherungsbeiträge nicht abgezogen werden.
Hinzukommt, dass sie in den meisten Fällen keine Rechte und Anwartschaften in der deutschen Sozialversicherung erwerben. Jedenfalls in der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung sind Warte- und Vorversicherungszeiten erforderlich, die zumeist nicht erreicht werden.
Die Arbeitgeber sind also mehrfach benachteiligt, wenn Saisonarbeitskräfte sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden:
- mindestens 20 % höhere Lohnkosten
- Kompensation der Abzüge durch Erhöhung des Bruttolohns der Beschäftigten
- Abwanderung vorhandener Arbeitskräfte
- erschwerte Rekrutierung von neuen Arbeitskräften.
Die Folge ist ein nationaler und internationaler Wettbewerbsnachteil für das Unternehmen. Es fehlen z.B. die finanziellen Mittel für Modernisierungen oder die Finanzierung von zwei Unternehmerfamilien beim Eintritt der Nachfolger, was unmittelbar zur Betriebsaufgabe führen kann.
Auch die nervliche Belastung der Arbeitgeber durch den hohen bürokratischen Aufwand und die Ungewissheit über den Ausgang der DRV-Prüfungen ist so hoch, dass die Freude an der Obst- und Gemüseproduktion oft leidet.
Die Ungewissheit über den Ausgang der Prüfungen ergibt sich auch daraus, dass das Ergebnis auch von der Tagesform der Prüfer abhängt.
Jede Betriebsprüfung kann anders verlaufen. Ein Grund dafür, dass sich die Unternehmen selten gerichtlich gegen die pauschalen Nachforderungen der DRV wehren, liegt darin, dass die Prüfungen zuweilen auf Stichproben beruhen, die sodann fiktiv hochgerechnet werden, um dann einen niedrigeren Betrag als Vergleichsvorschlag anzubieten, da ansonsten die Prüfung auf alle Arbeitskräfte ausgedehnt werden müsse.
Die Folge ist, dass sich die Betriebe darauf einlassen, zumal sich die Verfahren vor den Sozialgerichten nicht selten über mehrere Jahre hinziehen.
Die ständigen Erhöhungen des Mindestlohns verschärfen diese Problematik zudem unmittelbar, da die Lohnnebenkosten parallel steigen, während die Erlöse von Angebot und Nachfrage geprägt sind, die unmittelbar von den unkalkulierbaren und immer extremeren Witterungsbedingungen abhängen.
Das Netzwerk der Spargel- und Beerenverbände e.V. fordert daher seit Jahren von der Politik, dass eine Vertrauensschutzregelung in § 8 SGB IV dahingehend ergänzt wird, dass Arbeitgeber nicht für falsche Angaben der Arbeitnehmer haftbar gemacht werden können und die Angaben in den von der DRV zur Verfügung gestellten Fragebögen zur Versicherungspflicht/Freiheit ausreichen müssen.
In letzter Zeit hat sich die DRV bei Prüfungen vermehrt auf das Landshuter Urteil S 1 BA 3/21 berufen, in dem Saisonarbeitnehmer grundsätzlich als berufsmäßig tätig eingestuft wurden, sofern die Lohnhöhe durch die kurzfristige Beschäftigung besondere wirtschaftliche Bedeutung für den Arbeitnehmer erreicht.
Erfreulicherweise wurde dieses Landshuter Urteil nun am 18.09.2024 vom Landessozialgericht München mit dem Urteil L 16 BA 27/21 ohne Revisionsmöglichkeit aufgehoben.
Dies ist für uns Anlass, gute Argumente aus vorliegenden Urteilen als Kernaussagen (siehe unten) zusammenzufassen und die Urteile als Download zur Verfügung zu stellen mit dem Ziel, dass sie gegen die oft unbegründeten Nachforderungen der DRV verwendet werden können.
Zusammenfassung der wichtigsten Argumente aus den aktuellen Urteilen
Das Sozialgericht Lüneburg (S1 BA 15/22 ER) hat geurteilt, dass der Arbeitgeber kein Recht zur Ausforschung privater Lebensumstände weder des Arbeitnehmers noch seiner Familienangehörigen besitzt, weswegen das Fehlen von Angaben über Einkommensverhältnisse oder Verdienstbescheinigung der Familienangehörigen dem Arbeitgeber nicht zur Last gelegt werden kann. Es liegt kein Verstoß gegen § 8 BVV vor.
Es hat weiter geurteilt, dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, den Arbeitgeber zu weiteren umfangreichen Ermittlungen zu verpflichten oder ihm die Vorgabe zu machen, bestimmten Angaben in dem Fragebogen von vornherein keinen Glauben zu schenken.
Hierin liege eine unzulässige, vorweggenommene Beweiswürdigung und im Bezug auf osteuropäische Arbeitskräfte eine Diskriminierung von EU-Arbeitnehmern.
Diese Rechtsprechung wurde vom SG Freiburg und dem LSG Baden-Württemberg (L 8 BA 2385/22) bestätigt und aufgenommen.
Das LSG Baden-Württemberg (L 11 BA 3083/20) hat geurteilt, dass eine Umkehr der Beweislast aufgrund der von der DRV pauschal erhobenen Zweifel und Einwände an den Angaben der jeweiligen Erntehelfer („unplausibel“) nicht in Betracht komme. Durch den bundeseinheitlich verwendeten SV-Fragebogen werde die Arbeitgeberverpflichtung zur Prüfung der für die Beurteilung von Sozialversicherungspflicht relevanten Umstände vorgegeben und auch begrenzt.
Das LSG Baden-Württemberg (L 8 BA 2385/22) hat geurteilt, dass die Berufsmäßigkeit einer Beschäftigung oder ein höheres Arbeitsentgelt allein zum Ausschluss der Zeitgeringfügigkeit nicht genüge, da beide Ausnahmetatbestände kumulativ vorliegen müssen (Verweis auf Knospe Rn. 54 ff.).
In derselben Entscheidung findet sich die Aussage, dass Berufsmäßigkeit nicht allein auf das unterschiedliche Lohngefälle in Deutschland und in Rumänien als gegeben angenommen werden darf und dass Berufsmäßigkeit im Vollbeweis feststehen muss und daher nur durch Ermittlungen im Einzelfall und nicht mit pauschalen Erwägungen begründet werden darf.
Das LSG Baden-Württemberg hat in einer weiteren Urteil (L 5 BA 3595/23 ER-B) entschieden, dass es vor dem Hintergrund osteuropäischer Lebensverhältnisse mitnichten unglaubwürdig oder unplausibel sei, dass auch Eheleute beide keiner Erwerbstätigkeit nachgingen und daher im Status „nicht berufsmäßig“ sein könnten, weil - anders als in Deutschland - ein Ehepaar aus Rumänien in der Regel nicht mit den Kindern allein in einem Haushalt lebe, sondern in einer Großfamilie mit Eltern, Schwiegereltern, Geschwistern, Tanten und Onkel in einer Wirtschafts- und Einstandsgemeinschaft lebe.
Schließlich hat das LSG Baden-Württemberg in einer weiteren Entscheidung (L 2 BA 3128/22), mit der eine Berufung der DRV als offensichtlich unbegründet ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewiesen wurde, klar zum Ausdruck gebracht, dass die Auffassung des 11ten, 8ten und 5ten Senates geteilt werde.
Diese besagt, dass der Arbeitgeber mit der Verwendung des bereitgestellten bundeseinheitlichen zweisprachigen Fragebogens für Saisonkräfte aus dem osteuropäischen Ausland seiner Aufzeichnungspflicht ausreichend nachkommt und nicht gegen seine Mitwirkungspflicht bei der Erhebung der sozialversicherungsrechtlichen relevanten Tatbestände verstößt.
Des Weiteren weist sie darauf hin, dass die Abwälzung von weiterer Sachaufklärung und Ermittlungstätigkeit auf den Arbeitgeber gegen das Amtsermittlungsprinzip nach § 20 SGB X verstößt; die DRV sei grundsätzlich selbst verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, zumal ihr als Körperschaft des öffentlichen Rechts andere und weitergehende Ermittlungsmöglichkeiten offenstehen.
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat in einem Beschluss (L 8 R 987/15 B ER) klargestellt, dass Säumniszuschläge zu nachträglich erhobenen Sozialversicherungsbeiträgen nicht pauschal erhoben werden können, auch nicht, wenn fachkundiges Personal oder z.B. ein Steuerbüro die Gehaltsabrechnung durchführt und pauschale Hinweise zur Abrechnung hätte geben können.
Die Deutsche Rentenversicherung muss also konkret-individuell feststellen, welche Tatsachen für die Erhebung von Säumniszuschlägen streiten.
Hinweis:
Die genannten Urteile dienen lediglich als Argumentationshilfe und sind nicht als Präzedenzurteile zu werten, da es sich nicht um Grundsatzentscheidungen handelt. Daher sollten weiterhin alle verfügbaren Unterlagen, welche die Eigenschaft „nicht berufsmäßig“ belegen, zu den Lohnunterlagen abgelegt werden.
Die Autoren empfehlen den Arbeitgebern, die Urteile und diese Übersicht für künftige Prüfungen zu ihren Unterlagen zu nehmen und sich bei ungerechtfertigten Nachforderungen von ihrem Verband Informationen einzuholen und von spezialisierten Juristen beraten zu lassen.
Autoren:
- Christian Fritz (Rechtsanwalt, Fachanwälte für Sozialrecht, Fritz & Kollegen in Freiburg)
- Simon Schumacher (Vorstandsprecher, VSSE e.V. Bruchsal)
Unter vsse.de werden in Zusammenarbeit mit der Kanzlei Fitz & Kollegen aktuelle Entwicklungen online aufbereitet und weitestgehend ohne Zugangsbeschränkungen zur Verfügung gestellt, damit Arbeitgeber branchenübergreifend besser gegen die Forderungen der DRV aufgestellt sind und so nach und nach weitere positive Urteile in anderen Bundesländern erzielen, die kurzfristige Beschäftigung von Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft und im Gartenbau auch langfristig ermöglichen.
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass zu Unrecht erhobene Beiträge auch im Nachhinein bis zu vier Jahre lang von den Arbeitgebern zurückgefordert werden können.
Weitere Informationen.
Quelle: VSSE
Veröffentlichungsdatum: 16.10.2024