Schweiz: Wildheckenfrüchte, Wildobstarten und alte Apfelsorten in der Landwirtschaft
„Wildfrüchte und alte Obstsorten erleben in der Schweiz ein Comeback. Das sagen Fachleute zu Herausforderungen und Potential von Wildhecken, Naschwegen und innovativen Anbauprojekten mit alten Wildobstsorten“, berichtet der Landwirtschaftliche Informationsdienst (LID).
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LID: Sind Wildhecken und Wildobst beziehungsweise alte Apfelsorten bei Produzenten und Konsumenten ein Trend?
David Herrmann von Bio Suisse: Wir haben keine Daten zu Schweizer Produkten aus Wildhecken oder alten Obstsorten und können deshalb nicht für den gesamten Biolandbau sprechen. Bei einzelnen Früchten wie zum Beispiel bei Hagebutten gäbe es durchaus Potential, da sind aber die hohen Arbeitskosten in der Schweiz und andere Faktoren hinderlich. Insgesamt gehen wir hier aber von einer Nische aus.
Dr. Markus Kellerhals von der Vereinigung zur Förderung alter Obstsorten FRUCTUS: Das Pflanzen von Hecken wird in verschiedenen Programmen wie IP Suisse zur Förderung der Biodiversität und von Nützlingen unterstützt. Das stösst bei Produzentinnen und Produzenten auf gewisses Interesse. Wildobst im Sinne von Vorfahren unserer Kulturobstarten und -sorten spielt noch eine geringe Rolle.
FRUCTUS bearbeitet aber aktuell ein Projekt zu Malus sylvestris, auch Wildapfel oder Holzapfel. Alte Apfelsorten spielen als Tafelfrucht eine untergeordnete Rolle, werden aber von Konsumentinnen und Konsumenten geschätzt, im Sinne von Vielfalt bezüglich Formen, Farben, Geschmacksnuancen und Verwendung.
Viele alte Sorten wurden und werden auch für die Verarbeitung zu Most, Cider, Dörrobst, Backen oder zum Kochen genutzt. Je nach Verwendung können speziell geeignete Sorten genutzt werden, so auch in der Spitzengastronomie, was FRUCTUS aktiv fördert.
Sandra Helfenstein vom Schweizer Bauernverband: Wir haben keine Daten, um auf diese Frage eine abgestützte Antwort geben zu können. Gemäss unserer Einschätzung gibt es für fast alles einen Markt. Jener für Wildheckenfrüchte und Wildobst dürfte allerdings gemäss unserer Einschätzung recht klein sein und auch nur eine kleine Klientel in sehr urbanem Gebiet ansprechen.
In ländlichen Gebieten gehen Interessierte eher selbst in den Wald, um beispielsweise Brombeeren zu sammeln. Das Potential bei alten Apfelsorten dürfte etwas grösser sein, wobei auch hier nicht die grosse Masse darauf anspricht.
Gertrud Burger von der Stiftung ProSpecieRara: Wildhecken und Wildobst sind ein ganz anderes Thema als alte Apfelsorten. Alte Apfelsorten können sich als Tafelobst in Nischenmärkten als Spezialitäten etablieren. Sie sind im Grossverteiler aber auch vermehrt an Wochenmärkten oder in Hofläden zu finden.
Mit solchen Sorten können sich die Produzenten abheben vom Standardsortiment. Alte Apfelsorten finden Echo bei Kundinnen und Kunden, wo der Erhalt der genetischen Vielfalt, das kulturelle Erbe und auch besondere geschmackliche Erlebnisse im Vordergrund stehen. Wildobst ist im Prinzip nur in verarbeiteter Form vermarktbar.
Es findet Echo bei Leuten, welche besonders den gesundheitlichen Aspekten Rechnung tragen wollen – gesunde Vitamine, Gerb- und Bitterstoffe. Ernte und Verarbeitung sind in der Regel wegen der Kleinfruchtigkeit und der allmählichen Reifung aufwändig.
Lisa Nilles von der Schweizerischen Vereinigung für die Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raums AGRIDEA: In städtischen Gebieten mit Wochenmärkten, bei Bio- und Demeter-Anbietern und ihren Kundinnen und Kunden sind Wildheckenfrüchte, Wildobstarten und alte Apfelsorten ein Trend – im Grosshandel aber kaum.
Viele Landwirtschaftsbetriebe integrieren immer mehr auch unbekanntere Wildfrüchte in ihre Systeme, entweder zum Eigenkonsum oder zur Integration in die Direktvermarktung.
LID: Lassen sich Wildheckenfrüchte und Wildobstarten erfolgreich in Hofläden und auf Bauernmärkten vermarkten?
David Herrmann von Bio Suisse: Durchaus, gerade in der Direktvermarktung lassen sich Produkte mit einer speziellen Geschichte gut vermarkten.
Dr. Markus Kellerhals von FRUCTUS: Es werden diverse verarbeitete Produkte wie Brände, Konfitüren und weitere Produkte angeboten, was auf Interesse stösst.
Sandra Helfenstein vom Schweizer Bauernverband: Ich sehe ein gewisses Potential auf Wochenmärkten in der Stadt.
Gertrud Burger von ProSpecieRara: Wenn die Produzentinnen und Produzenten geschickt in der Verarbeitung dieser Produkte sind und auf ein für gesundheitliche Aspekte affines Publikum treffen, können sie gut und auch zu einem ansprechenden Preis vermarktet werden. Mit Geschick meine ich zum Beispiel effiziente Ernte, Rüsten und Verarbeitung mit Unterstützung von geeigneten Maschinen, innovative Produktentwicklung nebst Säften, Konfitüre oder Bränden.
Lisa Nilles von AGRIDEA: Für die aufwändige Verarbeitung sind Zeit und entsprechendes Knowhow nötig. Die Produkte sind teuer – zudem gibt es Wildbeeren, die roh verzehrt ungeniessbar oder giftig sind. Daher sind sie nur entsprechend gekocht und verarbeitet geniessbar. Es ist eine Nische, aber richtig verarbeitet, beispielsweise zu Marmeladen, Konfitüren, Gelee, Säften oder Sirup, können Wildbeeren sehr schmackhaft sein.
LID: Sind Wildhecken und Wildobst aus Sicht der Biodiversität eine ökologische Aufwertung der landwirtschaftlichen Nutzflächen?
David Herrmann von Bio Suisse: Allgemein sind Hecken ein wichtiger Baustein für den Schutz und die Pflege der Biodiversität. Die Biobäuerinnen und -bauern unternehmen viel dafür. Mindestens zwölf Massnahmen müssen sie treffen, das Anlegen und Pflegen von Hecken ist eine davon.
Hugo Wyler vom Bundesamt für Landwirtschaft: Das ist der Fall, ja. Aus Sicht der Biodiversität spielen Wildhecken inklusive Wildobstarten eine wichtige ökologische Rolle. Sie dienen als Brut- und Nistplätze, als Rückzugsort und als Ort, um Nahrung zu finden. Folglich sind sehr viele Arten auf die Hecken angewiesen, um zu überleben.
Aus landwirtschaftlicher Sicht profitieren auch die Landwirtinnen und Landwirte von vielen Tierarten, die in Hecken leben, wie beispielsweise Bestäuber und Räuber von Ernteschädlingen – beispielsweise das Hermelin, der ein grosser Räuber von Wühlmäusen ist. Hecken spielen auch eine Rolle als Windschutz.
Gertrud Burger von ProSpecieRara: Wenn ein Acker bestückt wird mit einer Wildobstproduktionsanlage ist diese schon aufgrund der reicheren Struktur im Vergleich zu einem Kartoffelacker ökologisch deutlich wertvoller. Die Anlage ist ganzjährig da, bietet Lebensraum für Vögel, Nahrung für Insekten und schont auch den Boden und die Bodenfruchtbarkeit. Wildobstbäume und Wildobststräucher eigenen sich auch gut für Agroforstsysteme, also die Kombination von Strauch- beziehungsweise Baumreihen mit Ackerkulturen.
Lisa Nilles von AGRIDEA: Definitiv, Wildobsthecken erweitern das Nahrungsangebot auf vielfältige Weise. So ist die Kornelkirsche einer der frühesten Blüher und damit eine wichtige Trachtpflanze für blütenbesuchende Insekten. Auch andere Wildobstarten blühen ausserhalb unserer «normalen» Obstsaison und decken so weitere Trachtzeiträume ab.
Das Nahrungsangebot der Früchte ist nicht zu unterschätzen. Dazu bieten viele Heckengehölze auch andere Lebensraumnischen an als die klassischen Obstplantagen.
LID: Welche Wildheckenfrüchte beziehungsweise welche Wildobstarten und alten Apfelsorten eignen sich besonders gut für den Anbau in der Landwirtschaft und für die Vermarktung?
David Herrmann von Bio Suisse: Die Pflanzen müssen gut zum hiesigen Klima passen. Sie sollten einen guten Ertrag haben und die Früchte sollten sich einfach verarbeiten lassen.
Gertrud Burger von ProSpecieRara: Zu Beginn würde ich mit bekannteren und zugänglicheren Arten arbeiten. Zum Beispiel Kornelkirsche, Sanddorn, Holunder, Aronia oder Schwarzdorn. Diese können dann Türöffner sein für ganz spezielle Wildobstarten im Sortiment wie beispielsweise eingelegten Ebereschen oder Ölweidensäften oder weiteren.
Lisa Nilles von AGRIDEA: Beispielsweise Aronia, Sanddorn, Hagebutte, Eberesche, Kornelkirsche, Schwarzdorn eignen sich zur Vermarktung. Das kommt stark auf die Arbeitskapazität und die Organisation und die gewählten Wildfrüchte an. Viele Wildobstarten sind züchterisch weniger stark bearbeitet, was vielerlei Konsequenzen hat: Stacheln und Dornen oder sich schlecht ablösende Früchte.
Dazu kommen unterschiedliche Abreifezeitpunkte. Einzelne Betriebe haben Sanddorn und Schwarzdorn wieder aus der Produktion genommen, da der Aufwand für die Ernte viel zu hoch war. Schwarzdorn und auch Sanddorn machen je nach Sorte mit den Ausläufern Probleme. Eberesche wird je nach Baumtyp enorm hoch, was den Ernteaufwand und die Sicherheit wieder verkompliziert.
Es gibt aber auch Betriebe, die einen enormen Aufwand betreiben und die Früchte in der Hofgastronomie als Besonderheiten vermarkten. Dazu gehören unter anderem auch Ölweiden, Maibeere, Minikiwi, Holunder und andere. Aronia ist in der Schweiz bereits mehr oder weniger etabliert und auch in den Einzelhandelsregalen.
LID: Unterstützt Ihre Organisation die landwirtschaftliche Nutzbarmachung von Wildhecken und Wildobst, wenn ja in welcher Form?
Hugo Wyler vom Bundesamt für Landwirtschaft: Seit 1999 läuft der Nationale Aktionsplan zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der pflanzengenetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft, kurz NAP-PGREL, um die Sortenvielfalt zu unterstützen.
Im Bereich Vermarktung oder Verwertung der Früchte von Wildhecken und Wildobst gibt es seitens landwirtschaftlicher Rechtsgrundlagen keine spezifische Förderung. Der Bund kann die Herstellung von Obstprodukten aus Beeren, Kern- und Steinobst mit Beiträgen unterstützen, insofern bestimmte Anforderungen eingehalten sind.
Mit Beiträgen unterstützt werden kann die Verwertung folgender Obstarten: Äpfel, Birnen, Quitten, Mostäpfel, Mostbirnen, Aprikosen, Kirschen, Pflaumen und Zwetschgen, Brombeeren, Erdbeeren, Himbeeren und anderes Beerenobst. Die Verwertung von Früchten, die nicht als Beeren oder Obst angesehen werden, wie beispielsweise Hagebutten, wird nicht unterstützt.
Die Herstellung von Produkten aus beispielsweise Sanddorn- oder Maibeeren, die als mehrjährige Beeren gelten, kann hingegen mit Beiträgen unterstützt werden. Neben der eigentlichen Nutzbarmachung unterstützt das Bundesamt für Landwirtschaft auch die Pflege und das Anpflanzen von Wildhecken, wenn sie sich auf der Landwirtschaftlichen Nutzfläche befinden, mit Biodiversitäts- und Landschaftsqualitätsbeiträgen. Diese Hecken spielen wie schon erwähnt eine wichtige Rolle für die Biodiversität, aber auch für das Landschaftsbild.
Die Pflege ist in der Direktzahlungsverordnung geregelt, aber die Nutzung dieser Hecken liegt in der Hand des Landwirts oder der Landwirtin. Um bedeutende Pflanzen zu erhalten, werden verschiedene Massnahmen getroffen. Diese können in drei Kategorien eingeteilt werden: Bereitstellen von Grundlagen, Erhaltung und nachhaltige Nutzung sowie Sensibilisierung. Die Umsetzung erfolgt in Form von Projekten in Zusammenarbeit mit diversen Organisationen, die meist regional oder national tätig sind.
Dr. Markus Kellerhals von FRUCTUS: Wir haben aktuell ein Projekt zu Malus sylvestris, dem Wildapfel in der Schweiz. Leider haben wir kaum Kapazität uns mit weiteren Wildarten zu befassen. Wir haben aber beispielsweise ein Vereinsmitglied, das sich speziell mit Speierling befasst.
Gertrud Burger von ProSpecieRara: Wir sind eine Stiftung, welche sich durch Gönnergelder finanziert und keine Vergabestiftung. Allerdings haben wir schweizweit wohl die grösste Sammlung an Wildobstpflanzen in Dürrenäsch im Kanton Aargau. Der Wildobstbestand ist öffentlich, Besucherinnen und Besucher können Wuchs und Früchte der verschiedenen Sorten und Arten betrachten. Auch bieten wir Wildobstkurse an mit Degustationen und Führungen. Ergänzend dazu recherchieren wir die Eigenschaften der Wildobstsorten und dokumentieren sie.
Lisa Nilles von AGRIDEA: Ja, wir unterstützen die landwirtschaftliche Nutzbarmachung von Wildhecken und Wildobst. Wir erstellen Merkblätter, betreiben eine Webseite zu Agroforst und beraten auf Anfrage auch Betriebe. Momentan sind wir etwas stärker auf die sogenannte Futterhecken für die tierische Produktion fokussiert.
Quelle: LID.ch
Veröffentlichungsdatum: 28.10.2024